RINGO
Tonfilm Nr. 26: RINGO, oder auch HÖLLENFAHRT NACH SANTA FE, wie der
erste deutsche Verleihtitel von STAGECOACH lautete, gehört zu den
vermutlich 10 wichtigsten Filmen der Filmgeschichte. Wichtig, wenn man
vom Aspekt der Richtungsweisung oder sogar Richtungsänderung ausgeht.
Warum, dass verstehen viele Menschen wie das für richtungsweisende Filme
und nicht ausschließlich einflussreiche Filme gilt heutzutage oft nicht
mehr.
Eine Liste der für das Kino und die Filmgeschichte richtungsweisenden Filme könnte ungefähr so aussehen:
DIE GEBURT EINER NATION, 1914 (David Wark Griffith)
INTOLERANZ – DIE TRAGÖDIE DER MENSCHHEIT, 1915 / 1916 (David Wark Griffith)
NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS, 1921 (Friedrich Wilhelm Murnau)
PANZERKREUZER POTEMKIN, 1925 (Sergei Michailowitsch Eisenstein)
SONNENAUFGANG – DAS LIED ZWEIER MENSCHEN, 1927 (Friedrich Wilhelm Murnau)
SCHNEEWITTCHEN UND DIE 7 ZWERGE, 1934 - 1937 (William Cottrell, David
Hand, Wilfred Jackson, Larry Morey, Perce Pearce, Ben Sharpsteen)
RINGO, 1938 (John Ford)
FAHRRADDIEBE, 1948 (Vittorio de Sica)
RASHOMON – DAS LUSTWÄLDCHEN, 1950 (Akira Kurosawa)
DER SCHWARZE FALKE, 1955 (John Ford)
AUSSER ATEM, 1959 (Jean-Luc Godard)
PSYCHO, 1959 / 1960 (Alfred Hitchcock)
KRIEG DER STERNE, 1976 / 1977 (George Lucas)
Diese Filme haben nicht nur einen Einfluss auf Regisseure oder andere
Filmschaffende genommen, sie haben das Kino an sich verändert im Moment
ihres Erscheinens. Sie haben Veränderungen bewirkt, die nicht nur zu
Kopisten aufgerufen haben oder neuen Trends, sondern Prinzipien des
Kinos an sich geformt haben, an denen sich bis heute abgearbeitet wird.
Die Meriten von John Fords RINGO sind grob in drei Bereiche zu unterteilen:
- RINGO
ist der erste Film der Filmgeschichte, dessen inhaltliches Konstrukt
voll und ganz auf der Filmgeschichte aufbaut und der trotzdem eine
mythologische Größe besitzt. Er basiert auf Prinzipien, die sich durch
knapp 40 Jahre Kinogeschichte im Vorfeld im Genre des Westerns
entwickelt haben. Es liegt ihm kein bedeutendes historisches Ereignis,
keine bedeutende oder überhaupt irgendwie wahrgenommene literarische
Vorlage, kein politisches Ereignis, geschweige denn ein Krieg, ein
gesellschaftliches Ereignis, eine historische Begebenheit, die
romantisiert wurde, eine real existierende Figur, das Prinzip eines
Star-Films, oder ein für die Menschheit in irgendeiner Weise relevantes
Problem vor. Er entwickelt seine Geschichte einzig aus Standards, die
sich durch den Film entwickelt haben.
- RINGO ist der erste
Film, der sich aus dem Film heraus entwickelter Stereotype bedient, um
sie allesamt aufzubrechen und ihnen eine Komplexität zu verleihen, die
sie als Menschen erfahrbar macht. Dies geschieht durch ein vollkommenes
Zusammenwirken formaler Elemente, so dass sogar die unsympathischste
Figur – der kapitalistische Banker, der mit den Lohngeldern türmt –
einen Shot erhält, der seine innerpsychischen Beweggründe erklärt.
Letztlich gibt es also gar keine Stereotype - sie dienen nur einem
Wiedererkennungswert - sondern immer nur dahinter stehende Menschen, die
für ihr Verhalten komplexe Motivationen haben und die uns durch den
Film in all ihren Facetten gezeigt werden.
- RINGO ist der
erste Film, der deutlich macht, dass Film und Kino sich immer nur in
vorgetäuschten Räumen befinden können, die bei aller Suggestion von
Historizität diese allenfalls nutzen, um ihre Geschichten an etwas zu
verankern, das Menschen ein Gefühl von "Ich war dabei" vermittelt und
gleichzeitig einen identifikatorischen Wiedererkennungswert, der sowohl
für die Menschen und ihre Schwächen, sowie für die Ereignisse gilt, die
sie erleben und die sich zu einem filmischen Abenteuer entwickeln kann.
Der besondere Clou, der RINGO über einen Film wie MENSCHEN IM HOTEL
(1932) erhebt, ist der von André Bazin benannte Inbegriff des
Filmischen, dass all diese Menschen sich durch die Postkutsche in der
Bewegung befinden, also ihr Schicksal ganz in der ständigen Bewegung
gipfelt, die schließlich in der maßstabsgebendsten Actionszene der
Filmgeschichte gipfelt, wenn Ford in einzelnen Shots ganze Universen
erzählt, während die Fortbewegung der Action den Stillstand eliminiert.
Nebenbei arbeitet der als B-Film produzierte Film, Ford wollte wie bei
DER VERRÄTER alle Entscheidungen in der eigenen Hand behalten, alle
Topoi der Menschheitsgeschichte ab.
Der legendäre Einführungs-Shot von Ringo. In Fords Film gelingt das
Wunder, dass keine Figur wichtiger ist als die andere. Nur durch den
Zoom bzw. die Fahrt macht Ford deutlich, dass Ringo uns wichtiger sein
könnte. Viel wurde über die Unschärfe diskutiert, die sich in den 2 Sekunden
ergibt, wenn wir uns auf Ringo zubewegen und sein entschlossenes
Gesicht sich innerhalb der Unschärfe in ein ängstliches verwandelt. Der
vermeintliche Held, der brüllt, dass die Kutsche anhalten solle, ist
sich selbst über sein Tun nicht im Klaren (eine der meist zitiertesten Szenen der Filmgeschichte).
Zwei Ausgestoßene. Der einzige Arzt des Städtchens ist ein Säufer und
hasst die moralische Borniertheit der Liga für anständiges Benehmen. Die
treiben gerade eine Hure aus der Stadt. Der von Philosophie erfüllte,
aber saufende Arzt und die Hure, die ihr Dasein selbst nicht mag, aber
den Frauen der Liga lieber trotzt, gehen stolz aus der Stadt.
Peacock ist ein Mann aus dem Osten. Er bedient sich geradezu grotesker
Formen des Anstandes, so dass ihn aufgrund seiner Sprache jeder für
einen Geistlichen hält. Tatsächlich ist er jedoch ein Reisender in
Schnaps und wird den saufenden Doc Boone nicht mehr los.
Gatewood ist der Bankier der Stadt. die Lohngelder sind gerade
eingetroffen und er hat sie zu verwahren. Er ist verheiratet mit der
Leiterin der Liga des Anstandes und obwohl Ford ihn als Rassisten und
Dieb zeichnet, schenkt er ihm bzw. dem Zuschauer durch einen kurzen Shot
Verständnis, warum er mit den Lohngeldern türmt. Er versucht
seinerseits aus gefestigten Verhältnissen auszubrechen und macht es auf
die einzige Weise, die ihm Sicherheit gibt.
Dallas, die vertriebene Hure, ist inzwischen in der Postkutsche. Hier
haben wir eines der schönsten Beispiele für Fords Blickkino und seine
daraus resultierenden sozialen Kommunikationen. Dallas sieht Lucy
Mallory, eine Dame der angesehenen Gesellschaft. Ford inszeniert es so,
als würde sie Lucy anblicken, doch die Montage arbeitet dem implizit
entgegen.
Lucy blickt zwar, wie Ford uns suggeriert, auf sie doch tatsächlich
lässt er sie in den Achsenwinkeln aneinander vorbeischauen. Dallas
blickt nach unten rechts, Lucy nach oben links. Sie sehen sich laut
Inszenierung in der Kadrage, aber laut Montage blicken sie in der
Kadrage vorbei. Dies symbolisiert ihren sozialen Status und ihr Gefälle.
Szenen dieser formalen Komplexität gibt es im Film einige Hundert.
Hatfield ist eine Figur, welche ganze historische Dimensionen und
kinomythologische Ebenen mitbringt. Er scheint die zwielichtige Gestalt
des "Gamblers" zu sein, der arme Viehtreiber ausnimmt und ein typisches
Beispiel für den haltlosen Gesetzlosen ist. Tatsächlich steckt hinter
ihm die wichtigste Dimension der psychischen Zerrüttung eines Teils der
USA und sein Unvermögen mit der Reconstruction-Ära klar zu kommen (seine Figur war Vorlage für Lee van Cleefs Figur in FÜR EIN PAAR DOLLAR MEHR).
Die Dame der feinen Gesellschaft, Lucy, erwartet ein uneheliches Kind.
Dies hatte sie vor allen geheim gehalten. Hatfield treibt den ihm
unsympathischen Doc Boone dazu an, einmal nüchtern zu sein, um die
komplizierte Geburt zu gewährleisten. Es gibt in RINGO keine konventionellen Figurenzuweisungen, die
dramaturgischen Prinzipien folgen. Ganz wie im wirklichen Leben müssen
sich die Figuren immer wieder zueinander positionieren.
Die Hure Dallas, die weiß, dass sie in einer patriarchalen Gesellschaft
höchstens einen Bastard großziehen darf, schützt das Baby mit ihrem
Leben.
Ringo und Dallas begehen ihren letzten Marsch. Ringo will seinen Bruder
rächen, Dallas muss wieder anschaffen gehen. Sie sind die Außenseiter,
die sich in der Nussschale, die durchs Universum treibt, hier die
Postkutsche, die durch das zerklüftete Land rast, gefunden haben und
wissen, dass solche wie sie keine Zukunft haben.

Der Marshall hat Ringo reingelegt. Er lässt ihn sich auf den Kutschbock
setzen und Ringo, immerhin ein gesuchter Mörder, glaubt er müsse nun ins
Gefängnis. Der Marshall bittet Dallas auch noch auf den Kutschbock,
angeblich um ein kurzes Stück mitzufahren. Danach wird der Marshall
einen Stein auf das Pferd werfen. Es galoppiert davon. Ringo schaut sich
noch verwundert um. Der Marshall hat Ringo die Selbstjustiz durchgehen
lassen, schließlich hat Ringo einen beträchtlichen Teil zur Rettung der
Postkutsche beigetragen. Dallas hätte nur ihr tristes Huren-Dasein
erwartet. In einem Anflug von Überschwang der Emotionen schenkt er ihnen
eine Zukunft. Ob es gut gehen wird, dass diese zwei Außenseiter ein
Leben beginnen können, abseits ihrer Determinationen, lässt der Film, in
Anbetracht des ambivalenten Schlussbildes, sich selbst fragend offen (Cameron zitiert diese Einstellung in DER TERMINATOR).