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Montag, 22. September 2014

RINGO

RINGO

Tonfilm Nr. 26: RINGO, oder auch HÖLLENFAHRT NACH SANTA FE, wie der erste deutsche Verleihtitel von STAGECOACH lautete, gehört zu den vermutlich 10 wichtigsten Filmen der Filmgeschichte. Wichtig, wenn man vom Aspekt der Richtungsweisung oder sogar Richtungsänderung ausgeht. Warum, dass verstehen viele Menschen wie das für richtungsweisende Filme und nicht ausschließlich einflussreiche Filme gilt heutzutage oft nicht mehr.

Eine Liste der für das Kino und die Filmgeschichte richtungsweisenden Filme könnte ungefähr so aussehen:

DIE GEBURT EINER NATION, 1914 (David Wark Griffith)

INTOLERANZ – DIE TRAGÖDIE DER MENSCHHEIT, 1915 / 1916 (David Wark Griffith)

NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS, 1921 (Friedrich Wilhelm Murnau)

PANZERKREUZER POTEMKIN, 1925 (Sergei Michailowitsch Eisenstein)

SONNENAUFGANG – DAS LIED ZWEIER MENSCHEN, 1927 (Friedrich Wilhelm Murnau)

SCHNEEWITTCHEN UND DIE 7 ZWERGE, 1934 - 1937 (William Cottrell, David Hand, Wilfred Jackson, Larry Morey, Perce Pearce, Ben Sharpsteen)

RINGO, 1938 (John Ford)

FAHRRADDIEBE, 1948 (Vittorio de Sica)

RASHOMON – DAS LUSTWÄLDCHEN, 1950 (Akira Kurosawa)

DER SCHWARZE FALKE, 1955 (John Ford)

AUSSER ATEM, 1959 (Jean-Luc Godard)

PSYCHO, 1959 / 1960 (Alfred Hitchcock)

KRIEG DER STERNE, 1976 / 1977 (George Lucas)

Diese Filme haben nicht nur einen Einfluss auf Regisseure oder andere Filmschaffende genommen, sie haben das Kino an sich verändert im Moment ihres Erscheinens. Sie haben Veränderungen bewirkt, die nicht nur zu Kopisten aufgerufen haben oder neuen Trends, sondern Prinzipien des Kinos an sich geformt haben, an denen sich bis heute abgearbeitet wird.

Die Meriten von John Fords RINGO sind grob in drei Bereiche zu unterteilen:
  • RINGO ist der erste Film der Filmgeschichte, dessen inhaltliches Konstrukt voll und ganz auf der Filmgeschichte aufbaut und der trotzdem eine mythologische Größe besitzt. Er basiert auf Prinzipien, die sich durch knapp 40 Jahre Kinogeschichte im Vorfeld im Genre des Westerns entwickelt haben. Es liegt ihm kein bedeutendes historisches Ereignis, keine bedeutende oder überhaupt irgendwie wahrgenommene literarische Vorlage, kein politisches Ereignis, geschweige denn ein Krieg, ein gesellschaftliches Ereignis, eine historische Begebenheit, die romantisiert wurde, eine real existierende Figur, das Prinzip eines Star-Films, oder ein für die Menschheit in irgendeiner Weise relevantes Problem vor. Er entwickelt seine Geschichte einzig aus Standards, die sich durch den Film entwickelt haben.
  • RINGO ist der erste Film, der sich aus dem Film heraus entwickelter Stereotype bedient, um sie allesamt aufzubrechen und ihnen eine Komplexität zu verleihen, die sie als Menschen erfahrbar macht. Dies geschieht durch ein vollkommenes Zusammenwirken formaler Elemente, so dass sogar die unsympathischste Figur – der kapitalistische Banker, der mit den Lohngeldern türmt – einen Shot erhält, der seine innerpsychischen Beweggründe erklärt. Letztlich gibt es also gar keine Stereotype - sie dienen nur einem Wiedererkennungswert - sondern immer nur dahinter stehende Menschen, die für ihr Verhalten komplexe Motivationen haben und die uns durch den Film in all ihren Facetten gezeigt werden.
  • RINGO ist der erste Film, der deutlich macht, dass Film und Kino sich immer nur in vorgetäuschten Räumen befinden können, die bei aller Suggestion von Historizität diese allenfalls nutzen, um ihre Geschichten an etwas zu verankern, das Menschen ein Gefühl von "Ich war dabei" vermittelt und gleichzeitig einen identifikatorischen Wiedererkennungswert, der sowohl für die Menschen und ihre Schwächen, sowie für die Ereignisse gilt, die sie erleben und die sich zu einem filmischen Abenteuer entwickeln kann. Der besondere Clou, der RINGO über einen Film wie MENSCHEN IM HOTEL (1932) erhebt, ist der von André Bazin benannte Inbegriff des Filmischen, dass all diese Menschen sich durch die Postkutsche in der Bewegung befinden, also ihr Schicksal ganz in der ständigen Bewegung gipfelt, die schließlich in der maßstabsgebendsten Actionszene der Filmgeschichte gipfelt, wenn Ford in einzelnen Shots ganze Universen erzählt, während die Fortbewegung der Action den Stillstand eliminiert.
Nebenbei arbeitet der als B-Film produzierte Film, Ford wollte wie bei DER VERRÄTER alle Entscheidungen in der eigenen Hand behalten, alle Topoi der Menschheitsgeschichte ab.

Der legendäre Einführungs-Shot von Ringo. In Fords Film gelingt das Wunder, dass keine Figur wichtiger ist als die andere. Nur durch den Zoom bzw. die Fahrt macht Ford deutlich, dass Ringo uns wichtiger sein könnte. Viel wurde über die Unschärfe diskutiert, die sich in den 2 Sekunden ergibt, wenn wir uns auf Ringo zubewegen und sein entschlossenes Gesicht sich innerhalb der Unschärfe in ein ängstliches verwandelt. Der vermeintliche Held, der brüllt, dass die Kutsche anhalten solle, ist sich selbst über sein Tun nicht im Klaren (eine der meist zitiertesten Szenen der Filmgeschichte).


Zwei Ausgestoßene. Der einzige Arzt des Städtchens ist ein Säufer und hasst die moralische Borniertheit der Liga für anständiges Benehmen. Die treiben gerade eine Hure aus der Stadt. Der von Philosophie erfüllte, aber saufende Arzt und die Hure, die ihr Dasein selbst nicht mag, aber den Frauen der Liga lieber trotzt, gehen stolz aus der Stadt.


Peacock ist ein Mann aus dem Osten. Er bedient sich geradezu grotesker Formen des Anstandes, so dass ihn aufgrund seiner Sprache jeder für einen Geistlichen hält. Tatsächlich ist er jedoch ein Reisender in Schnaps und wird den saufenden Doc Boone nicht mehr los.


Gatewood ist der Bankier der Stadt. die Lohngelder sind gerade eingetroffen und er hat sie zu verwahren. Er ist verheiratet mit der Leiterin der Liga des Anstandes und obwohl Ford ihn als Rassisten und Dieb zeichnet, schenkt er ihm bzw. dem Zuschauer durch einen kurzen Shot Verständnis, warum er mit den Lohngeldern türmt. Er versucht seinerseits aus gefestigten Verhältnissen auszubrechen und macht es auf die einzige Weise, die ihm Sicherheit gibt.


Dallas, die vertriebene Hure, ist inzwischen in der Postkutsche. Hier haben wir eines der schönsten Beispiele für Fords Blickkino und seine daraus resultierenden sozialen Kommunikationen. Dallas sieht Lucy Mallory, eine Dame der angesehenen Gesellschaft. Ford inszeniert es so, als würde sie Lucy anblicken, doch die Montage arbeitet dem implizit entgegen.


Lucy blickt zwar, wie Ford uns suggeriert, auf sie doch tatsächlich lässt er sie in den Achsenwinkeln aneinander vorbeischauen. Dallas blickt nach unten rechts, Lucy nach oben links. Sie sehen sich laut Inszenierung in der Kadrage, aber laut Montage blicken sie in der Kadrage vorbei. Dies symbolisiert ihren sozialen Status und ihr Gefälle. Szenen dieser formalen Komplexität gibt es im Film einige Hundert.


Hatfield ist eine Figur, welche ganze historische Dimensionen und kinomythologische Ebenen mitbringt. Er scheint die zwielichtige Gestalt des "Gamblers" zu sein, der arme Viehtreiber ausnimmt und ein typisches Beispiel für den haltlosen Gesetzlosen ist. Tatsächlich steckt hinter ihm die wichtigste Dimension der psychischen Zerrüttung eines Teils der USA und sein Unvermögen mit der Reconstruction-Ära klar zu kommen (seine Figur war Vorlage für Lee van Cleefs Figur in FÜR EIN PAAR DOLLAR MEHR).


Die Dame der feinen Gesellschaft, Lucy, erwartet ein uneheliches Kind. Dies hatte sie vor allen geheim gehalten. Hatfield treibt den ihm unsympathischen Doc Boone dazu an, einmal nüchtern zu sein, um die komplizierte Geburt zu gewährleisten. Es gibt in RINGO keine konventionellen Figurenzuweisungen, die dramaturgischen Prinzipien folgen. Ganz wie im wirklichen Leben müssen sich die Figuren immer wieder zueinander positionieren.


Die Hure Dallas, die weiß, dass sie in einer patriarchalen Gesellschaft höchstens einen Bastard großziehen darf, schützt das Baby mit ihrem Leben.


Ringo und Dallas begehen ihren letzten Marsch. Ringo will seinen Bruder rächen, Dallas muss wieder anschaffen gehen. Sie sind die Außenseiter, die sich in der Nussschale, die durchs Universum treibt, hier die Postkutsche, die durch das zerklüftete Land rast, gefunden haben und wissen, dass solche wie sie keine Zukunft haben.


Der Marshall hat Ringo reingelegt. Er lässt ihn sich auf den Kutschbock setzen und Ringo, immerhin ein gesuchter Mörder, glaubt er müsse nun ins Gefängnis. Der Marshall bittet Dallas auch noch auf den Kutschbock, angeblich um ein kurzes Stück mitzufahren. Danach wird der Marshall einen Stein auf das Pferd werfen. Es galoppiert davon. Ringo schaut sich noch verwundert um. Der Marshall hat Ringo die Selbstjustiz durchgehen lassen, schließlich hat Ringo einen beträchtlichen Teil zur Rettung der Postkutsche beigetragen. Dallas hätte nur ihr tristes Huren-Dasein erwartet. In einem Anflug von Überschwang der Emotionen schenkt er ihnen eine Zukunft. Ob es gut gehen wird, dass diese zwei Außenseiter ein Leben beginnen können, abseits ihrer Determinationen, lässt der Film, in Anbetracht des ambivalenten Schlussbildes, sich selbst fragend offen (Cameron zitiert diese Einstellung in DER TERMINATOR).

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