DER VERRÄTER
Tonfilm Nr. 17: Ja,...äh, was soll man dazu sagen. Wenn man die
einzelnen Stepstones John Fords sehr grob unterscheiden möchte, hat man
drei Stufen. Stufe 1 war der monumentale Stummfilm-Western DAS EISERNE PFERD aus dem Jahr 1924. Dieser Film katapultierte Ford in die Liga der
wichtigen Regisseure. Stufe Nr. 3 war RINGO, aus dem Jahr 1939, mit dem
Ford nicht nur seine eigene Liga begründete und nicht nur einen
einflussreichen Film inszenierte, sondern den Verlauf bzw. die gesamte
Filmgeschichte veränderte. Doch die wichtigste Stufe seiner Karriere war
Stufe Nr. 2: DER VERRÄTER. Er hievte ihn in die Ober-Liga der Hollywood-Regisseure. Es ist der perfekteste Film, den ich je
gesehen habe. Perfekt deshalb, weil er nicht wie aus der
Kubrick-Maschine erscheint, sondern schon wieder Ecken und Kanten hat,
an denen man sich stoßen kann und trotzdem sieht jede, aber auch
wirklich jede Einstellung aus, wie man denkt, dass sie aussehen muss, um
perfekt zu sein. Und trotzdem emotional überwältigend. Bis zu seinem Tod
wurde Samuel Fuller nicht müde zu betonen, dass DER VERRÄTER der beste
Film war, der je gedreht wurde.
Jean Renoir lief, nachdem er diesen Film gesehen hatte, aus dem Kino wie
ihm Wahn und schrieb an seinen Freund George Seaton, dass er endlich
weiß, wie er die Kamera zu bewegen habe. Da das französische Kino zu
Beginn der 1930er Jahre sehr von der Handkamera und Kamerawackelei
lebte, um neben der amerikanischen Einstellung und der Montage des
sowjetischen Formalismuses ein Bindeglied aus ständiger Bewegung zu
schaffen, erkannte Renoir durch Fords DER VERRÄTER wie er Bewegung ins
Bild bringen konnte, "ohne die Kamera bewegen zu müssen". So sollte DER
VERRÄTER in seiner Gestaltung der Kadrage und Arbeit mit Schnitt und
Kamera einer der zentralen Einflüsse des Poetischen Realismuses werden.
Der Filmhistoriker Tag Gallagher sieht in DER VERRÄTER einen Film, mit
dem in puncto Einfluss auf die Gestaltung von Film allenfalls David Wark
Griffiths DIE GEBURT EINER NATION mithalten könne. Der
Produzenten-Mogul Darryl F. Zanuck sah in DER VERRÄTER den vielleicht
ersten, reinen Kunst-Film der Tonfilm-Ära. Frank Capra ließ sich nach
DER VERRÄTER dazu hinreißen zu sagen, dass Ford der "King of Directors"
sei und er den inspirierendsten Film der Film-Geschichte geschaffen
habe.
Ford hatte diesen Film erkämpft. Nachdem sein Auftrag für die Columbia
erfüllt war, sollte er schleunigst den letzten Film mit Will Rogers
drehen. Ford war in der Lage von der RKO ein Budget zu bekommen und die
FOX zu vertrösten. Mit einem Minimal-Budget - der Film konnte nur
realisiert werden, weil Ford auf seine Gage verzichtete und alle
Beteiligten runterhandelte - inszenierte Ford in nicht mal 3 Wochen mit
einer künstlerischen Wucht, als wollte er alle an die Wand drücken, eines der wichtigsten Beispiele für Independent-Arbeit mitten im
klassischen Monstrum Hollywood und eine Entfesselung aller Möglichkeiten filmischer
Kunst, eben durch die Limitierung.
Der Film hatte auf das europäische Kino nicht nur in Frankreich einen
Einfluss, er wurde auch bei den Filmfestspielen von Venedig nominiert
und war in Italien zu sehen. Hier zeigt sich dann ein Problem, dass Ford
mit keinem seiner anderen Filme in dieser Form haben sollte. Keiner
seiner Filme war derart politischer Zensur in aller Welt ausgesetzt.
Dass Sympathien für eine extremistische Terrorzelle aufgebracht wurden,
die sich gegen die Obrigkeit auflehnte, war in diversen Ländern 1935
nicht statthaft. Noch dazu, dass die Hauptfigur sich in einem
permanenten Rausch befand, jede Einstellung saufen wie ein Loch, mehrere
Flaschen Schnaps in wenigen Stunden, jedes Mal genussvoll gezeigt. Noch
dazu mit Huren, Bettlern und sogar der I.R.A. auf "Du und Du".
Der Film wurde in Finnland, Spanien und Deutschland verboten, in vielen
anderen Ländern erst "ab 18" freigegeben, in Großbritannien, dem
wichtigsten Abnehmer-Markt für Hollywood-Filme, durfte er erst nach
erheblichen Kürzungen ab 18 in den Kinos laufen. In Deutschland erschien
er schlussendlich 1950, 15 Jahre nach seiner Entstehung, in einer
radikal gekürzten Fassung. Adenauer-Deutschland konnte nicht zulassen,
dass eine Hauptfigur, saufend und hurend, psychisch völlig zerrüttet und
verwoben mit einem politisch-rebellischem Widerstand, durch deutsche
Kinos geistert.
Rebellentum gab es auch außerhalb des Filmes. Der Film hatte eine
abenteuerliche Entstehungsgeschichte. John Ford hielt seinen
Hauptdarsteller, den ehemaligen Schwergewichtsboxer Victor McLaglan,
permanent unter Alkohol, um die Abwärtsspirale seiner Figur besser
abbilden zu können. Im Schnitt-Raum dozierte er dem späteren
Meister-Cutter und Oscar-Regisseur Robert Parrish, dass er beim
Schneiden alles über das Filme machen lernt. Für diesen Film erhielt er
seinen ersten von sechs Oscars. Man sollte ihm diesen gefälligst per
Post zuschicken, da ihn die Veranstaltung nicht interessierte.
Drehbuchautor Dudley Nichols, Fords rechte Hand, lehnte den Oscar gleich
ganz ab. Ein anderer Preis interessierte Ford. Der New Yorker Preis der
Filmkritiker war bis in die 1970er der begehrteste Preis unter
amerikanischen Filmschaffenden. Der Oscar war ein Scheiß im Vergleich
dazu. Die ganze Left-Wing und Right-Wing-Mischpoke, ständig zerstritten,
der größte intellektuelle und kulturelle Clash des Landes. Sie
hatten DER VERRÄTER zum besten Film des Jahres erkoren und John Ford zum
besten Regisseur. Es war einer der wenigen Preise, die Ford sich
persönlich abholte. Es mag damit zusammenhängen, dass sich bei dieser
Entscheidung etwas ergab, was es vorher noch nie gegeben hatte und was
sich bis heute nicht wiederholt hat. Der Film erhielt nicht nur
einstimmig in beiden Kategorien den Preis. Es war zum ersten und
einzigen Mal in der Geschichte dieser sonst zerstrittenen Gruppe im
ersten Durchgang.
Gypo Nolan im Nebel der Unkenntnis
Intrusion des Rezipienten in die Gedankenwelt Gypos, weil er aufgrund
des Steckbriefes seines einzigen Freundes in Versuchung gerät,
gleichzeitig Rückblende in die Vergangenheit und Verschmelzung der
Zeitebenen. In vielen Ländern war diese militärische Anspielung ein
Opfer der Zensur
Gypo ist ein 2-Meter-Hüne. In dieser Einstellung ist er stolz. Im
weiteren wird Ford alle Seiten eines Menschen und seinen Verfall zeigen
Einen Freier seiner Freundin Katie wirft er in die Gosse
Katie ist zwar eine Hure, aber sie liebt Gypo. Trotzdem ist sie sauer,
dass er ihr das Geschäft vermasselt hat. Sie träumt von Amerika, wohin
eine Person für nur 10 Pfund aus dem Dreck, der Dublin inzwischen durch
die Unterdrückung der Briten geworden ist, entkommen kann
Frankie, der von den "Tans" gesucht wird, ist Gypos einziger Freund.
Gypo ist aus der I.R.A. ausgeschlossen wurde, da er den Tötungsbefehl an
einem britischen Offizier nicht ausführen konnte. Doch Frankie mag ihn,
seine Mutter mag ihn. Gypo ist so ein lieber Klotz. Frankie weiß nicht,
dass Gypo ihn verraten würde. Ford nutzt hier die Unsitte des
Achsensprungs, um den Bruch in ihrer Feundschaft formal erfahrbar zu
machen
Vor den "Tans" ist Gypo plötzlich ein Wicht. Ford trieb McLaglan dazu,
in jeder Szene, je nach Situation, seine stimmliche Modulation zu
ändern. Vor den Autoritäten lispelt er wie ein Kind
Frankies Schwester stellt sich der britischen Armee in den Weg. Eine
enorm wirkungsvolle Action-Szene, mit der Ford plötzlich aus der
Stimmung des Films ausbricht
Nach seinem Verrat fürchtet Gypo jeden. Selbst einen Blinden
Vor dem Kommandanten der I.R.A. spielt er eine andere Rolle und belastet Unschuldige
In Dublin herrscht Armut und Hunger durch die Briten. Iren sind starken
Beschränkungen ausgesetzt und deshalb herrscht überall Leid. Gypo,
inzwischen besoffen bis oben hin, lädt mit seiner Belohnung für den
Verrat an seinem besten Freund einen ganzen Straßenzug zum Essen ein.
Damit ist er "King Gypo"
Gypo und seine schleimige Gefolgschaft begleiten ihn in ein
Luxus-Bordell. Eine Engländerin sagt ihm, sie wolle nach Hause, nach
London, sie will nicht mehr anschaffen gehen. Gypo gibt ihr Fahrgeld,
damit wenigstens sie entkommen kann.
Gypo erkennt, dass er durchschaut wurde. Ford wechselt im letzten
Drittel vom Expressionismus und europäischem Autorenfilm plötzlich in
ein angelsächsisches Courtroom-Drama
Gypo konnte dem Jungen, der an ihm die Exekution vollziehen soll, entkommen. Die Hure Katie vergibt ihm was er tat
Von Kugeln durchsiebt wankt Gypo in die Kirche. Dort betet Frankies
Mutter, die Gypo immer wie einen Sohn behandelt hat. Er fleht sie um
Vergebung an. Und tatsächlich: Sie vergibt ihm, weil sie als einzige Gypos
Natur durchschaut und den Wahnsinn der politischen Komplexität, der
ständig morden lässt, überwindet.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen